10.11. – 20.11.2016
Sichuan (oder Sezuan) bedeutet „Land des Überflusses“. Unser erster Kontakt mit dieser Provinz ist die Hauptstadt Chengdu. Mit 14 Mio. Einwohnern gehört sie noch nicht zu den richtig großen chinesischen Städten. Es gibt einen Überfluss an Restaurants und an Luftverschmutzung. Auch der Verkehr ist ziemlich reichlich – für uns ist alles ziemlich viel, nach Wochen im wenig besiedelten Xinjiang, einfach zu viel „Überfluss“. Die Fahrt ist angenehm im Soft Sleeper, statt sechs Fahrgästen teilen sich nun vier Leute das verschließbare Abteil. Ein junge Chinesin übersetzt für uns und die Oma, die auch mitfährt, versorgt uns mit Plätzchen und zeigt uns alle 1400 Fotos auf ihrem Smartphone. Nicht nur die Liegen sind breiter und entspannender als in der Holzklasse, auch die Warteräume. In Xi`an trifft sich der ganze Verkehr für Westchina, tausende Menschen warten auf mehreren Ebenen auf Anschlussfahrten, Leute liegen übereinander und schlafen, dazwischen liegen abgenagte Hühnerfüße – wir man sich China vorstellt. Wir sitzen mit nur wenigen anderen Fahrgästen entspannt im Softsleeperwarteraum – welch ein Luxus (deutlich günstiger als die Direktverbindung von Jiayuguan in der einfachen Klasse).
Die Ankunft in Chengdu am nächsten Morgen ist wie ein Schlag ins Gesicht: Deutlich wärmer und unglaublich voll. Ein dutzend Scooterfahrer wollen uns auf ihren Motorrollern zum Hostel bringen („Mote! Mote!“), nach unseren Erfahrungen in Teheran ist Toni allerdings nicht dafür zu begeistern. Abends wartet unser Willkommenskommitee: Vera und Cyril aka Team Oufti, die wir das letzte Mal in Istanbul gesehen haben und Helmut und Sophia, unser letztes Treffen am Issyk Kul liegt noch nicht so lange zurück. Es gibt eine Neuauflage vom #cycledrinking.
Das Hostel hatte uns informiert, dass die Räder angekommen sind. Angekommen sind allerdings erstmal nur die Taschen, das Hostelpersonal hat gedacht, dass sich auch unsere Räder in dem Karton befinden. Also heißt es warten. Zuerst kommt Tonis Rad an, die Freude hält sich allerings etwas in Grenzen. Das Velo befindet sich in einem Karton und wurde dilettantisch demontiert – es ist also scheinbar wirklich eingeflogen worden. Einige Tage später kommt auch mein Rad an, in einem noch schlechteren Zustand, die Lampe wurde abgebrochen, alles zerlegt und sichtbar schlecht behandelt. Also heißt es basteln. Über die Laufräder wollen wir noch einmal einen Profi drübergucken lassen. Eine super Entscheidung, wir finden den besten Radladen auf der Reise: Natooke in Chengdu. Wir bestellen eine neuen Reifen, mein Hinterrad hatte bei Kontakt mit frischem Asphalt etwas Grip eingebüßt und zuletzt täglich einen Platten. Unsere Räder sind wie neu, als wir sie wieder in Empfang nehmen, alles perfekt eingestellt. 100 Punkte.
Zu diesem Zeitpunkt waren wir schon einige Zeit in der Hauptstadt Sichuans, erst warten wir auf die Räder, dann auf die Reifen, dann auf den Service. Unsere anfängliche Abneigung hat sich gewandelt, trotz der hohen Luftverschmutzung ist Chengdu nicht umsonst die viertlebenswerteste Stadt in China. Das zieht viele Expats an, die wiederum für viele westliche Restaurants sorgen, es gibt sogar einen Ikea und Decathlon (Schuhe in Größe 47).
In Bertolt Brechts kapitalismuskritischen Wert „Der gute Mensch von Sezuan“ geht es um die Frage, ob man „gut sein und trotzdem leben kann“. Die Schere zwischen arm und reich geht weit auseinander in Chengdu – der Stadt, in der dieses Stück spielt. Wir sehen Maseratis und Rolles Royces aber auch viele Menschen die täglich versuchen, mit dem Verkauf von Kleinigkeiten über die Runden zu kommen. Im Starbucks sitzen Mönche mit iPhones, nebenan im tibetischen Viertel „Little Lhasa“ erwarten uns aufdringliche Bettler und uns wird erneut das Privileg dieser Reise deutlich vor Augen geführt.
Larry der Mechaniker (Expat aus den Staaten) lädt uns zum City Night Ride am Freitagabend ein. Why Not? (Georgien lässt grüßen) Bleiben wir halt noch nen paar Tage länger. Die richtige Entscheidung! So viel Radkultur hätten wir hier gar nicht erwartet. Unsere schweren Reiseräder fahren direkt neben super schnittigen Bahnrädern. Wir bleiben bis zum Schluss und gehen danach mit dem Team des Radladens noch was essen. Perfekte Gelegenheit für einen Reisschnaps. Das Ende vom Lied: Wir fahren spät in der Nacht, laut die Toten Hosen gröhlend wieder zurück zum Hostel – wir hatten eine ausgelassene Party mal wieder echt nötig. Dazu gab es tiefe Einblicke in das Leben der Expats und der Locals (zumindest der wohlhabenden, englischsprachigen).
Mittlerweile ist die Vorweihnachtszeit auch im subtropischen Sichuan angekommen. Unter Palmen spielt Frosty der Schneemann, alles ist weihnachtlich dekoriert und leicht absurd.
Die morgendlichen Kopfschmerzen aufgrund der Luftverschmutzung werden wir nicht vermissen, die vielen veganen und vegetarischen Restaurants hingegen schon. Trotzdem sind wir richtig heiß darauf weiter zu fahren, viel Gepäck wurde aussortiert, die Räder glänzen und sind bereit – genau wie wir (das Bereitsein, nicht das Glänzen).
Macht was draus,
T+D
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