Lange hat es gedauert, hier ist nun endlich unser Bericht von PBP 2023, diesmal aus der Sicht von Toni als Erststarterin. Enjoy!
Vier Jahre ist es her, da stand ich das letzte Mal am Start von Paris-Brest-Paris, ohne Rad, dafür mit Kamera in der Hand. Stolz auf Daniel winke ich ihm hinterher, als er voller Vorfreude in Richtung Sonnenuntergang davon rollt. Ein paar Minuten bleibe ich noch stehen und klatsche für alle, die jetzt gen Westen starten. 1200km liegen vor ihnen, die sie in 90h bewältigen sollen. Ein stetiger Fluss an Teilnehmenden rollt über den feinen Kiesel im Schlosspark und wirbelt den Staub auf. Ich frage mich, werde ich das wohl auch einmal erleben? Meine bis dahin längste Strecke bin ich im selben Jahr gefahren, kein Brevet, nur zu zweit mit Daniel. 270km an einem Tag. Zu dem Zeitpunkt konnte ich mir noch überhaupt nicht vorstellen, das noch dreimal zu fahren.
Obwohl Daniel sein erstes Brevet gerade einmal ein halbes Jahr vor PBP gefahren ist, scheint er über diese Zweifel erhaben zu sein. Dieses Selbstvertrauen muss ich mir über die nächsten Jahre erstmal erfahren, bis ich mich 2021 dann auch an 400er und 600er traue. Daniel hatte die lange Tour 2019 erfolgreich und ganz alleine in 87 Stunden gefinished. Während er unterwegs ist, reift in mir schon der Wunsch, 2023 mit ihm gemeinsam zu starten. Ich bekomme in Rambouillet und Brest einen Einblick in den Trubel dieses Events und bin begeistert! Ich will nicht nur dabei sein und zusehen, sondern Teil davon sein. Die nächsten Jahre werde ich immer wieder dieses Ziel vor Augen haben.
Der Weg dahin führt mich zu den Berliner Randonneuren, die mich von Anfang an mit offenen Armen aufnehmen. Hier ist jede(r) willkommen. Fahrrad- oder Klamottenmarke spielen keine Rolle, egal ob Liegerad, Tandem, Carbonrenner oder Stahlrandonneuse, hier geht es ums Fahrrad fahren und um nichts anderes. Pandemiebedingt fahre ich meine ersten Brevets 2020/2021 nur mit Daniel und unserem Freund Tobias, der auch 2019 schon in Paris am Start stand.
Doch auch Selbstzweifel und Misserfolge prägen den Weg. In 2021 nehmen wir uns mit dem Northcape4000 etwas Großes vor, 4000km in knapp 3 Wochen quer durch Europa. Nach zwei Wochen sind wir ausgebrannt, körperlich ausgezehrt und nicht mehr bereit, ein Rennen zu fahren. Wir brechen in Tallinn ab und nehmen die Fähre nach Stockholm statt Helsinki und fahren von dort im Abenteuermodus nach Hause. Eine Befreiung für uns – kein Zeitdruck mehr, ausreichend essen und eine Woche zelten. Wir sehen ein, dass Ultrarennen nichts für uns sind, aber die Erkenntnis ist nicht leicht zu verkraften.
Der nächste Rückschlag ist dann London-Edinburgh-London 2022 für uns. Wir sind zu langsam, unsere Pausen sind nicht effizient genug und körperlich läuft leider auch nicht alles rund, sodass wir am Ende die 1500km zwar schaffen, aber eine Stunde über dem Zeitlimit sind. Nach 5 Tagen Fahrt mit ständigem Schlafdefizit kommen wir vollkommen aufgelöst im Ziel an, um uns herum freudestrahlende Gesichter, doch ich kämpfe mit den Tränen. Wieder nicht wirklich gefinished, wieder nicht geschafft, was ich mir vorgenommen habe. Die Selbstzweifel sitzen danach tief. Werde ich wohl jemals etwas in der vorgegebenen Zeit finishen? Oder immer zu langsam, zu ineffizient bleiben? Bin ich hier überhaupt richtig, wenn doch anscheinend alle um mich herum so viel schneller, stärker und krasser sind als ich?
Endlich angekommen im Paris-Brest-Paris-Jahr 2023 will ich es wissen. Durch unseren 600er im Vorjahr können wir uns schon früh registrieren und die Nervosität ist groß. Bei den Qualifikationsbrevets darf nun nichts mehr schiefgehen. Und auch wenn die Berliner Saison komplett verregnet ist und wir beim 600er mit einem Defekt an Daniels Freilauf zu kämpfen haben, so zeigen uns doch diese Brevets mal wieder in aller Deutlichkeit, warum wir das eigentlich nochmal machen. Wir haben erhellende Gespräche, lernen viele wundervolle Leute kennen und spüren so viel Leben, wie man in ein Wochenende packen kann.
Mitte August 2023. Wir steigen aus dem TGV am Gare de L’Est, rollen die Fahrräder über den Bahnsteig und treten hinaus in die sengende Sonne. Paris! Bis hierhin haben wir es tatsächlich geschafft! Eine Sightseeing-Runde drehen wir noch durch die Stadt. Unsere Herzen schlagen höher, als es über den legendären Champs Élysées geht. Vor über 10 Jahren endete hier unsere erste mehrwöchige Radreise, von Prag nach Paris. Ein Meilenstein in unserem Radfahrerleben!
Und nun soll das nächste Highlight an diesem Ort folgen, 4 Jahre lang haben wir, habe ich, darauf hin gearbeitet, um jetzt endlich hier zu stehen.
Die Tage vor dem Start verbringen wir auf dem Campingplatz in Rambouillet, wo wir umgeben sind von Gleichgesinnten aus aller Welt, es ist ein einziges Randonneurs-Festival. Wir schließen uns den anderen Berlinern an und teilen Essen und Geschichten mit alten und neuen Freunden. An einem Abend geht es mir plötzlich total schlecht. Dröhnende Kopfschmerzen und Übelkeit, vermutlich zu viel Sonne. Zum Glück bekomme ich von Marianne eine Ibuprofen, mit der ich dann gut schlafe, davor kann ich aber mein Abendessen nicht bei mir behalten. Nicht gerade beste Voraussetzungen 48h vor dem Start. Glücklicherweise erhole ich mich schnell genug, um am Starttag wieder Crêpes und Galettes in mich reinzuschaufeln. Jetzt heißt es nur noch bis zum Abendstart ausharren und so gut wie möglich entspannen.
Um 19:15 Uhr ist dann der große Moment endlich da, auf den ich 4 Jahre gewartet habe und auch mein Hinterrad wirbelt den Staub im Schlosspark von Rambouillet auf, als es heißt „Bonne Route et bon Courage!“. Wir starten in den einsetzenden Sonnenuntergang. Vor uns liegen 1200km, die wir in maximal 90h schaffen wollen. Unser Plan ist simpel – die erste Nacht und den ersten Tag durchfahren, bis wir voraussichtlich im Laufe der zweiten Nacht Carhaix bei Kilometer 500 erreichen, wo wir uns ein paar Stunden schlafen legen wollen. Bei Daniels erstem PBP 2019 ist dieser Plan gut aufgegangen, er hatte damals sogar ein Hotelzimmer in der Nähe von Carhaix und konnte mehrere Stunden schlafen. Doch auch ein simpler Plan hat seine Tücken und schon die erste Nachtfahrt zeigt uns unsere Schranken auf. Eine riesige Gruppe Randonneure schiebt sich auf den französischen Landstraßen voran, alle tragen ihre gelben Warnwesten. In meiner Erinnerung verschwimmen wir alle zu einer leuchtenden Masse. Man spürt das Adrenalin bei allen pumpen und die ersten 100km werden eine rasante Fahrt, Gruppen bilden sich und fallen auseinander, überholen sich, ziehen sich gegenseitig im Windschatten. Einmal sehe ich Alex an mir vorbei ziehen, den ich erst an seinem Meerglas-Rad erkenne. Ich versuche mich kurz an ihn zu hängen, kann aber nicht am Hinterrad bleiben. Wir müssen unseren eigenen Rhythmus finden. Nicht lange und der Rausch der Nacht verflüchtigt sich, Müdigkeit setzt ein, doch prompt werden wir am Straßenrand von einem freundlichen Paar mit Kaffee und Cola gerettet. Diese netten Menschen sind überall in Frankreich an der Strecke zu finden und machen das Erlebnis PBP zu etwas ganz besonderem. Sie füllen Wasserflaschen, backen Crêpes und feuern uns Tag und Nacht an. Egal ob Jung oder Alt, ganze Familien und teilweise komplette Dörfer sind hier involviert und geben uns das Gefühl, Teil von etwas ganz Großen zu sein.
Tagsüber wird es so heiß, dass die meisten versuchen, eine Siesta einzulegen. Auch wir versuchen es mit 10-20 Minuten langen Powernaps.
Die Hitze schlaucht und das Terrain wird hügeliger, eigentlich ist es ein stetiges auf und ab. Wir machen an jeder Kontrolle Halt und versorgen uns mit dem Randonneurs-Essen aus den Schulkantinen. Omelette mit Reis und Gemüse ist der Klassiker, gegebenenfalls auch Nudeln mit Linsen und Gemüse, dazu noch Milchreis, ein paar Croissants und ein Paris-Brest und fertig ist die ausgewogene Mahlzeit. Naja, wir kommen mal wieder mit dem Auffüllen der verbrauchten Kalorien kaum hinterher. Und Salz muss her! Auf dem Rad futtern wir dann das ein oder andere Käsebaguette, Crêpes und die berüchtigten Dragibus. Eine Süßigkeit, die Daniel 2019 schon ins Ziel gebracht hat. Kann man eher mit Jellybeans vergleichen. Aber nach ein paar Tagen ist das Zeug nur noch eine Qual, Zucker und Säure greifen unsere Mundflora an und sorgen für Schmerzen und geschwollene Zungen.
Nachts um 2 erreichen wir dann endlich unser erstes Zwischenziel – Carhaix. I’m Schnelldurchlauf wird gegessen und dann nach einem Schlafplatz Ausschau gehalten. Wir entscheiden uns für das Erlebnis Schlafhalle. An fast allen Kontrollstellen, die meist in Schulgebäuden sind, wurde die Turnhalle mit Feldbetten ausgestattet, die gegen eine kleine Gebühr genutzt werden können. Man sagt dann noch an, wann man geweckt werden möchte und kriegt eine Decke in die Hand. Kaum sinke ich in das Feldbett, da werde ich schon sanft wieder von einer Freiwilligen geweckt. Eine Stunde Schlaf habe ich mir nur gegönnt. Ich will noch unter die Dusche, eine frische Hose anziehen und um 4 Uhr treffe ich Daniel zur Abfahrt. Erfrischt sind wir nicht gerade, als wir in die Dämmerung starten.
Der zweite Tag startet mit einem Aufstieg auf den höchsten Punkt der Tour, Roc’h Trévezel. Auf dem Weg dorthin müssen wir uns nochmal 5 Minuten an den Straßenrand legen, um nicht vom Rad zu fallen, die Müdigkeit steckt uns beiden noch in den Knochen.
Oben auf dem Plateau angekommen, spielt sich hinter uns ein Sonnenaufgang ab, der unsere Herzen höher schlagen lässt und wir wissen wieder, dass wir hier und jetzt genau richtig sind. Der Gebirgszug der Monts d‘Arrée liegt vor uns im Morgendunst, während wir die Abfahrt auf feinstem Asphalt Richtung Brest nehmen. Halbzeit! Die Stadt an der Atlantikküste zu erreichen, hätte eigentlich unser Highlight und ein glücklicher Moment werden sollen, aber wir beginnen, den Zeitdruck zu spüren, sind gestresst und undercarbed. Wir fangen an, uns wegen Nichtigkeiten in die Haare zu kriegen und verhageln uns so den schönen Moment. Es geht halt auch nicht immer alles nur glatt und harmonisch, wenn man sich vornimmt, gemeinsam zu fahren. Wir treffen Heike und Andy aus Berlin am Checkpoint und sind leider gar nicht richtig in der Lage zu zeigen, wie sehr wir uns über die bekannten Gesichter freuen.
Auf dem Weg aus der Stadt raus geht es vorbei an einem Sandstrand und über die Brücke, auf der ich Daniel vor vier Jahren getroffen und angefeuert habe. Wir gehen in ein Bistro und nachdem wir endlich richtiges Essen im Bauch haben, hellt sich auch die Stimmung wieder auf. Jetzt fallen uns auch die Schilder auf, die uns ab sofort den Weg zurück nach Paris weisen! Was nun folgt, ist der wohl anstrengende Teil der ganzen Strecke. Steile Hügel, die sich aneinanderreihen und eine brütende Hitze. Jeder Fahrer leidet. Wir müssen jetzt häufiger anhalten, um unsere Getränkevorräte aufzufüllen. Umso schöner, dass wir auf dem Teilstück so viele andere Randonneure wiedersehen, die wir bei LEL im Jahr zuvor oder bei Brevets zu Hause kennengelernt haben. Die kurzen Gespräche bringen Abwechslung und wenn man es nur als Anlass nimmt, sich über die Route und die Hitze zu beschweren. Ungeachtet dessen, treten wir alle immer weiter in die Pedale. Weiter gehts!
Nach dem heißesten und hügeligsten Teil der Route geht es nun wieder in die Kühle der Nacht. Wir hatten bisher auf einen Rückenwind aus Westen gehofft, die Hoffnung zerschlägt sich aber, der Wind hat gedreht. Die dritte von vier Nächten bricht an und wir haben mit der Müdigkeit zu kämpfen. Laut Musik hören hilft mir sonst immer, doch selbst das bringt nichts mehr und jedes Gespräch, das wir beginnen, versickert in der Stille der Nacht. An einem Checkpoint sagt man mir, ich sehe so aus als ob ich etwas Schlaf brauchen könnte. Das trifft wohl gerade auf jeden hier zu, selbst die Freiwilligen an den Kontrollen sind seit Stunden und Tagen wach. Keine Zeit, wir müssen weiter, entgegne ich.
In Loudéac treffen wir Tine von Gramm Tourpacking, die mit Schmerzen zu kämpfen hat und hier noch ein paar Stunden schlafen will. Wie wir später erfahren, wird sie hier nicht wie verabredet geweckt und schläft viel länger als geplant, das ist wirklich ärgerlich, aber sie wird sich bis zum Ende durchkämpfen.
Irgendwann schlingern wir nur noch im Schneckentempo von einer Straßenseite zur anderen. Nein, so kommen wir nicht voran. Wir halten an einem kleinen Unterstand neben einem Feldweg, holen unsere Rettungsdecken raus und stellen den Wecker auf eine Stunde. Das hilft, auch wenn ich nicht glaube dort wirklich geschlafen zu haben, zu kalt und windig. Mein Instinkt verbietet es mir auch leider, dass Daniel und ich gleichzeitig draußen schlafen können. Er ratzt schnell weg und ich habe das Gefühl, Wache halten zu müssen, auch wenn ich hundemüde bin und schaffe es dann nicht mehr einzuschlafen. Später müssen wir nochmal an einer Waldeinfahrt anhalten, das gleiche Spiel nochmal. Daniel stellt mittlerweile alles in Frage, was wir hier tun – ob wir es überhaupt noch im Zeitlimit schaffen können, oder bis zur nächsten Kontrolle. Ich versuche, ihn zu beruhigen, er solle erstmal etwas schlafen, dann sehen wir weiter. Also rolle ich ihn in eine Rettungsdecke wie einen menschlichen Dürüm und schaue mir im Mondschein an, wie ein paar andere Radfahrer neben uns halten und genau die selben Probleme durchmachen. Der erste hält an, lässt erschöpft seinen Kopf auf den Lenker fallen und schläft direkt im Stehen ein, ohne auch nur von der Straße runter zu gehen. Ein anderer hält neben mir, lässt sein Rad in den Staub fallen und legt sich einfach für 5 Minuten daneben. Dann fährt er wieder los. Es ist ein Anblick, wie wir ihn die ganze Strecke über am Straßenrand sehen. Wo man hinfällt, schläft man auch.
Ich wecke Daniel nach 15 Minuten und wir wissen, die Zwischenzeit für den nächsten Checkpoint schaffen wir nicht. Was das bedeutet, ist uns beiden nicht wirklich klar. Die Dämmerung bricht endlich an und unsere Lebensgeister kehren zurück. Wir können es noch schaffen, das Gesamt-Zeitlimit zu halten, wenn wir jetzt nicht schlapp machen. Also drücken wir nochmal in die Pedale. An den nächsten Kontrollen gibt es endlich wieder richtiges Essen, mein Mund ist von dem ganzen Süßkram noch ganz wund. Eine gute Mahlzeit und Tageslicht machen hier einen gewaltigen Unterschied. Wir können es noch schaffen, jetzt oder nie!
Der Tag läuft gut. Angetrieben vom Willen, es in der Zeit zu schaffen, machen wir Boden gut und sind in Fougères wieder im Zeitlimit. Nur eine kurze Pause – Mittag, Klo, Zähne putzen, Wasserflaschen füllen. Auch wenn wir uns beeilen, kostet uns das alles trotzdem mindestens 30 Minuten.
Ein Plan formt sich, wir wollen es vor Einbruch der Dunkelheit nach Villaines-la-Juhel schaffen, um dort noch etwas Schlaf zu kriegen. Wir würden dort vor Mitternacht schon wieder die Zelte abbrechen müssen, also lieber schnell ankommen. Villaines-la-Juhel ist kurz nach der 1000km Marke, ein echter Meilenstein auf dem Weg nach Paris!
Daniels Stimmung ist den Tag über immer besser geworden und er hat Spaß daran gefunden, neue Freunde auf der Strecke zu finden. Seine Strategie ist simpel – einfach den Mensch neben sich ansprechen und ein Stück zusammen fahren. Erstaunlicherweise ist das bisher noch nicht so viel passiert, wo wir das doch bei jedem Brevet so machen. So lernt Daniel an dem Abend noch einen Polen, einen Franzosen und einen Japaner kennen. Manche sprechen nur nicht so gut Englisch, um sich auf ein Gespräch einzulassen, aber selbst dann feuern wir uns gegenseitig an, um bei Laune zu bleiben. Auch einige Deutsche sind dabei, am neuen Randonneurs Allemagne Trikot leicht zu erkennen. Gemeinsam fahren wir durch die Nacht und machen das beste aus unserem selbstgewählten Leid.
Als wir unser Tagesziel erreichen, haben wir noch zwei Stunden Zeit – essen, duschen, wieder die gleichen Klamotten anziehen und ab auf eine Matte auf dem Boden. Der Schlaf ist kurz und ich hatte Glück, dass Daniel im selben Raum wie ich ist und mich mit einem Fußstupser wach macht. Entweder wurde ich nicht von den Mädchen geweckt, die den Schlafsaal überwachen, oder ich bin wieder eingeschlafen – ich kann mich nicht erinnern.
Als wir uns aufmachen zu gehen, merken wir, die Nacht ist nicht nur mild, sie ist tropisch. Auf dem gesamten Weg nach Brest und zurück brauche ich weder lange Handschuhe noch Beinlinge. In dieser letzten Nacht brauche ich nicht einmal eine Jacke. Die geöffnete Warnweste flattert an meinen Seiten, während wir im Dunkeln über die hügeligen Straßen gleiten. Und hoch. Und runter. Und wieder hoch. Ein 10-minütiges Nickerchen. Heute Nacht brauchen wir keine Decke.
„Viermal geht die Sonne auf, bevor wir Paris erreichen.“ – Dieser Satz war mir vier Jahre lang im Gedächtnis geblieben. Die blaue Stunde begrüßt uns und ich weiß, der schwierigste Teil ist vorbei – oder etwa nicht?
Als der letzte Tag anbricht, denken wir, wir hätten das Schlimmste hinter uns. Nur um wieder von den Elementen auf den Boden der Tatsachen zurück geholt zu werden. Der Wind weht uns nun direkt von vorn ins Gesicht und wir müssen eine Gruppe bilden, um den Windschatten zu nutzen. Leider will niemand vorne sein, also habe ich die Ehre, unsere Gruppe zu ziehen. Das hält allerdings nicht lange an, mein Tank ist leer, ich muss dringend Energie zuführen und habe zum Glück noch ein Baguette in der Rückentasche. Jetzt bloß nicht anhalten und die Gruppe verlieren. Einfach weiter rollen. Gerade als wir einen anderen Berliner Randonneur treffen, beginnt es zum ersten Mal zu regnen. Dankbar für die Abkühlung und die Wolken fahren wir zu dritt weiter und ziehen uns gegenseitig im Wind. Mittlerweile sieht die Landschaft aus wie im flachen Brandenburg, die Hügel liegen hinter uns.
Plötzlich fange ich an zu rechnen und gerate in Panik. Es ist zu schwer für mich, ich kann nicht mehr mithalten. Ich habe zu lange im Gegenwind gezogen und bin nun völlig leer. Mir wird klar, dass ich mit diesem Tempo keine weiteren 10 km schaffen kann. Ich weiß, dass ich die anderen ziehen lassen und alleine gegen den Wind kämpfen muss, und das würde mich viel Zeit kosten. Niedergeschlagen sehe ich mich schon außerhalb des Zeitlimits finishen. Nicht noch einmal!
Dann taucht aus dem Nichts ein Schild auf: „Dreux“ und dann „Contrôle“. Ich hatte die Entfernung zur nächsten Kontrolle falsch berechnet! Tränen der Freude und Erleichterung steigen mir in die Augen, als ich auf den Parkplatz irgendeiner französischen Schule rolle. Als Daniel mich ansieht, breche ich in Tränen aus. Ich bin so glücklich und gleichzeitig so gestresst, dass ich nicht weiß, was ich sagen soll.
Schnell muss ich mich wieder zusammenreißen. Daniel hilft mir dabei, mich auf das Wesentliche zu konzentrieren. Wir rennen durch den Kontrollpunkt und schnappen uns Cola, Croissants und Bananen. Ich stopfe mir einfach alles essbare ins Gesicht und da ist er – der Zuckerrausch. Noch 3 Stunden und nur noch 48 km. Let’s go!
Und ausnahmsweise steht der Wind jetzt zu unseren Gunsten. Wir rollen durch die Landschaft, die ein bisschen zu sehr nach Zuhause aussieht. Mit neuen Kräften kommen wir gut voran und überholen sogar die Gruppe von Jugendlichen, die PBP für Kinder fahren. Was für eine tolle Truppe!
Und dann wird mir klar, dass ich diesen Ort, diesen Wald, diese Straße schon mal gesehen habe. Ich war vor vier Tagen hier und bin in den Sonnenuntergang gefahren. Und jetzt schließt sich der Kreis. Vier Jahre lang habe ich von genau diesem Moment geträumt.
Wir überqueren gemeinsam die Ziellinie und rollen den staubigen Schotterweg hinunter in Richtung Schloss Rambouillet.
Der letzte Stempel. Die Medaille um meinen Hals. Wir haben es geschafft!
Für mich wird damit ein lange gehegter Traum wahr, endlich hier zu stehen, nicht nur als Zuschauerin, sondern inmitten der Randonneure. Mir die legendäre PBP-Warnweste verdient zu haben und nun stolz tragen zu können. Es einmal im Zeitlimit zu schaffen. Den Fluch brechen, sozusagen. Vielleicht bin ich nicht so schnell wie andere, aber auch jemand wie ich hat hier seinen Platz und ich habe das Gefühl, hier richtig zu sein. Unser Dank gilt allen, die wir unterwegs getroffen haben, die uns nachts bei Laune gehalten haben und mit uns gefahren sind. Natürlich aber um so mehr den Zuschauern und Freiwilligen, die das Event zum Leben erwecken und es zu so etwas besonderem machen.
Und zu guter Letzt hätten wir das alles auch nicht so schön hinbekommen, wenn es nicht die Berliner Brevet-Szene gäbe, mit der wir vor Ort ein kleines Camp gebildet haben und die uns so liebevoll in ihre Mitte aufgenommen haben – hier haben wir wirklich Freunde gefunden. Auch alle, die nicht dabei waren, uns aber auf den Vorbereitungsbrevets geholfen und gezogen haben und mit uns gefahren sind, möchten wir nicht vergessen. In 4 Jahren dann nochmal? Wir haben schon wieder Bock.
Macht was draus!
T + D
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