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London Edinburgh London 2022 – I am Irn-Bru

von Toni und Daniel

Nach dem Northcape4000 im letzten Jahr ging es 2022 für uns ins Vereinigte Königreich, genauer nach London, um von dort in die Schottische Hauptstadt und zurück zu fahren. Diese legendäre Rundfahrt findet nur alle 4 Jahre statt – im 2-Jahres-Wechsel mit Paris-Brest-Paris. Die 2021-Edition wurde allerdings um ein Jahr verschoben, sodass die Vorfreude noch größer war. Losgehen sollte es am 07. August 2022.

Hier findet ihr mehr Infos zur Veranstaltung London-Edinburgh-London.

Etwas mehr als 1500km müssen wir zurücklegen. Los gehts durch die flachen Landschaften von Cambridgeshire und Lincolnshire bis hin zur ersten großen Herausforderung: den Pennines, die zwischen uns und den Southern Uplands liegen und ebenfalls erklommen werden wollen. Dazu haben wir 125 Stunden, also etwas mehr als 5 Tage Zeit. Im Gegensatz zum letzten Jahr werden wir dieses Mal nicht mit dem Zelt und „unsupported“ unterwegs sein, sondern im Randonneursstil wie bei Paris-Brest-Paris, d.h. es gibt an den Checkpoints Essen, Duschen und Übernachtungsmöglichkeiten – „all inclusive“ sozusagen.

Die Herausforderung ist also weniger die Logistik, als vermutlich das Wetter und die Beschaffenheit der Straßen. Mal ganz von der physischen und mentalen Challenge abgesehen. Um das noch einmal zu betonen – es handelt sich bei LEL keineswegs um ein Rennen, sondern um ein Brevet. Hier zählt nicht, wer als erstes wieder in London ankommt. Man fährt gegen sich selbst und mit allen anderen.

Die Route seht ihr hier:

Und in Zusammenarbeit mit TARGET e. V. Rüdiger Nehberg haben wir auch in diesem Jahr eine Spendenaktion geplant, die am Ende unserer Fahrt bei 1305€ lag – Yeah! Vielen Dank dafür!

Einstimmen auf unseren Bericht könnt ihr euch mit dem Film von LEL 2017:

Dieser Beitrag stammt zur Abwechslung mal aus Tonis Feder, die hier ihre Perspektive auf unser bisher längstes Brevet zeigt.

Die Vorbereitung

Ganz so grün hinter den Ohren wie früher sind wir zum Glück nicht mehr – auch wir wissen mittlerweile, dass gute Vorbereitung entscheidend ist. Was uns natürlich immer noch nicht davon abhält, auch mal dumme Fehler zu machen. 

Letztes Jahr ist Daniels Fahrrad genau einen Tag vor Abfahrt zum Start des Northcape4000 fertig geworden, sodass er ohne Probefahrt starten musste. Dieses Jahr sollte es anders laufen, unsere Räder sollten schon Wochen vorher fertig sein – neue Schaltzüge, frische Ketten, Bremsbeläge, Reifen. Nun ja, auch wieder nur Wünsche – auch wenn alles soweit gut gewartet war, haben wir dann doch etwas zu kurzfristig meine Tubeless-Reifen gewechselt und nicht ausreichend getestet, sodass die späteren Probleme nicht rechtzeitig auffallen konnten. Dazu später mehr.

Abgesehen von der Fahrradwartung waren wir beide auch gut in Form, nachdem wir den Winter über durchgefahren sind und im Frühjahr und Sommer die komplette Brevet-Serie (200, 300, 400 und 600 km) in Berlin gefahren sind, dazu auch noch die Flèche Alemagne. Auf Nachtfahrten und wenig Schlaf waren wir also bereits eingestimmt, was uns aber trotzdem nicht weniger nervös gemacht hat – 1500 km sind für uns beide eine völlig neue Hausnummer. Und auch wenn Daniel mit Paris-Brest-Paris schon etwas ähnliches geschafft hat, so gab es für uns doch noch einige offene Fragen. Werden wir die ganze Zeit zusammen fahren können? Was wenn die Räder nicht mit uns in London ankommen? Was wenn einer von uns unterwegs aufgeben muss?

Manche Dinge muss man wohl einfach auf sich zukommen lassen. Bei allem anderen, was sich vorher schon planen lässt, sind wir aber deutlich entspannter, wenn wir es schon im Voraus organisieren. So z.B. die Anreise nach London – wie gerne hätten wir eine entspanntere Variante gewählt, mit Zug und Fähre, wofür man das Rad nicht zerlegen muss. Aber wegen Zeitmangel und Urlaubsknappheit müssen wir den Flieger nehmen. Wir erinnern uns wehmütig daran, wie routiniert wir damals in Neuseeland unsere Räder direkt am Flughafen auseinander gebaut und in Kartons verstaut haben, die wir gerade einen Tag vorher bei einem Radladen gekriegt hatten. Wie konnten wir das damals so entspannt machen? Diesmal kriegen wir einen Karton von einem Freund, den anderen vom Radladen. Für Daniels Renner ist der Karton viel zu groß, wir verkleinern ihn etwas und müssen hoffen, dass Easyjet ihn so mitnimmt. Eine einheitliche Angabe zu Maximalgrößen von Fahrradkartons konnten wir nämlich nirgends finden.

Am Tag unserer Abreise arbeiten wir beide noch im Homeoffice – Daniel muss am Ende sogar einen Kunden vertrösten: Wir müssten jetzt wirklich los zum Flughafen. Natürlich hat der Zug zum BER Verspätung und fällt dann ganz aus. Der Stresspegel steigt. Zum Glück haben wir einen Puffer eingeplant. Und ja, typisch wir, natürlich nehmen wir den Zug mit mehreren Taschen Gepäck und zwei Fahrradkartons und das bei knapp 30 Grad – gar kein Problem! Muskelkater in den Armen ist dann vorprogrammiert. Aber niemals würden wir ein Taxi nehmen. Da sind wir vehement.

Am BER geben wir die Räder beim Sperrgepäck auf. „Please take care of my bike <3“ schreibe ich noch mit Edding auf meinen Karton geschrieben. Das hat bisher immer geholfen. Sehr viel höher hätte Daniels Karton nicht sein dürfen, er passt gerade so durch den Scanner. Hier also zur Info für alle, die mal die Maximalgröße eines Fahrradkartons beim Sperrgepäck am BER suchen: höher als 1 m würde ich den Karton nicht machen. Der Standard-Canyon-Karton passt perfekt.

Nachdem wir sehen, dass unsere Fahrräder mit uns ins gleiche Flugzeug verladen werden, können wir nun auch endlich entspannen und kurz genießen, dass es losgeht.

Bei unserer Ankunft in London Gatwick sind wir überglücklich, als unsere Fahrradkartons unversehrt auf dem Gepäckband auftauchen. Auf Tonis Wunsch nach Zärtlichkeit für ihr Rad hat jemand geantwortet – „OK“ steht da auf dem Karton.

Noch im Terminal neben der Gepäckausgabe packen wir die Räder aus und bauen sie wieder zusammen – Lenker in den Vorbau, Vorderrad rein, Pedale anschrauben, Sattelstütze rein. Fertig. Daniel ist mit seinem Lenker danach aber noch nicht zufrieden, irgendwas ist immer mit diesem Rad – wir beschließen, das morgen einem Mechaniker zu zeigen und springen erstmal in den nächsten Zug nach London. Unser Hotel liegt außerhalb der Stadt im Norden – 15 km vom Start von LEL entfernt. Und über einem Pub. Natürlich fragen wir den Barkeeper/Sohn der Besitzerin erstmal nach einem lokalen Bier. Als dieser uns dann zwischen Fosters und Carlsberg wählen lassen will, sind wir etwas enttäuscht. Aber immerhin ist heute Cocktail night – „For the ladies“. Schade für Daniel.

Am nächsten Tag – es ist Samstag – steht die Startnummernausgabe an. Gestärkt mit dem ersten English Breakfast dieses Trips geht es ins 15 km entfernte Debden. Wir machen daraus eine kleine Testfahrt. Das erste Mal Linksverkehr seit 5 Jahren für uns. Anfangs müssen wir uns an jeder Kreuzung stark konzentrieren, um ja nicht beim Abbiegen auf der falschen Straßenseite zu landen. Später gibt Daniel den entscheidenden Tipp: „Der  Straßenrand muss immer links von dir sein.“. Klingt erstmal nicht so spektakulär, aber seitdem er es ausgesprochen hat, ist ein Groschen gefallen und ich weiß, woran ich mich orientieren kann. Der Weg zwischen Hotel und Startort ist ordentlich hügelig und ein kleiner Vorgeschmack auf die steilen englischen Straßen, die uns demnächst erwarten. Davor wurden wir schon gewarnt.

In Debden kommen uns die ersten Randonneure entgegen, die Registrierung und Startnummernausgabe ist schon in Gange. Im Vergleich zu PBP ist es alles etwas kleiner. Aber die Räder, die auf dem Fahrradparkplatz stehen sind nicht weniger illuster. Wir finden uns auf einer Liste mit Namen und Nummern wieder und holen unsere Startbeutel ab. Der erste Kontakt mit den vielen freiwilligen Helfern, die dieses Event möglich machen. Alle sind aufgeregt und man spürt die Vorfreude förmlich. Ab jetzt sind wir die Startnummern X18 und X19, die man uns am Handgelenken befestigt hat.

Bei LEL gibt es die Möglichkeit, an bis zu zwei Kontrollen auf dem Weg einen Beutel mit Kleidung, Ersatzteilen oder ähnlichem vorzuschicken. Wir haben uns für unterschiedliche Kontrollstellen entschieden, sodass wir nun an 4 Orten etwas deponieren können. So richtig viele Gedanken darüber, was wir nach Tagen auf dem Rad brauchen könnten, haben wir uns aber ehrlich gesagt nicht gemacht, so packen wir einfach jeder eine frische Bib, ein frisches Trikot und ein Paar Socken ein. Erst unterwegs sollen uns dann die nützlichen Dinge einfallen, die wir hätten vorschicken können (mein Tipp fürs nächste Mal: Badelatschen, Sitz- und Sonnencreme, Electrolyte/Getränkepulver, Snacks und eine neue Rettungsdecke).

Nachdem wir stolz unsere Startnummern und Brevetkarten in den Händen halten, treffen wir die anderen Berliner Randonneure – gemeinsam werfen alle nochmal einen kritischen Blick auf Daniels Titanrenner und Tobit von der legendären Dortmunder Radbude legt höchstselbst noch Hand an. Später findet der lokale Fahrradladen das Problem: ein neuer Spacer am Vorbau muss her, der Lenker wird neu verschraubt.

Mit ein paar kalten Bieren geht es dann am Vorabend des Starts noch auf den Campingplatz zu den anderen Berliner Randonneuren. Die ganze letzte Saison haben wir uns alle auf dieses Event vorbereitet, sind miteinander Brevets und mit unserem Freund Phelim auch die Flèche gefahren. Im Camp herrscht Festivalstimmung, letzte Vorbereitungen werden getroffen und nach ein paar Bieren wünschen wir uns, wir hätten auch ein Zelt mitgebracht – so viel geballtes Fahrradwissen, das hier versammelt ist! Und wunderschöne Räder. Leider haben wir alle unterschiedliche Startzeiten, aber vielleicht sieht man sich ja auf der Strecke.

Northbound

Sonntag: Unsere Räder sind gepackt, los gehts nach Debden. Es gibt ein hastiges Frühstück, das hauptsächlich aus Baked Beans besteht, dann müssen wir schon an den Start. Alle 15 Minuten rollt seit frühmorgens eine Starterwelle los Richtung Norden. Der Wahl der Startzeit würde ich ich nicht die größte Bedeutung zumessen. Viele wollen möglichst früh los, wir entscheiden uns meist für entspannte Startzeiten, unser Startblock ist um 11 Uhr vormittags. Der gleiche Typ aus den legendären Filmen zu LEL gibt das Startsignal und noch ein paar Sprüche zum Besten. Das Wetter in Schottland sei immer gut, kein Regen. Und Berge gäbe es da auch nicht. Augenzwinkernd werden wir auf die Strecke entlassen. Lange haben wir darauf hin gefiebert, jetzt ist es befreiend, endlich auf der Straße zu sein.

Die ersten 100 km bis zur Kontrolle in St. Ives vergehen wie im Flug. Die Landschaft ist relativ unspektakulär, sonnenverbrannte Felder säumen den Weg. Eine Hitzewelle rollt durch England und das kriegen wir zu spüren. Der Wunsch nach Abkühlung führt zum ersten Eisstop an einer Tankstelle, an der mir bewusst wird, wie wenig ich die Route im Vorfeld durchgeplant habe. Welche Läden am Wegesrand haben Sonntags geöffnet, gibt es lange Abschnitte, wo es gar keine Versorgung gibt? Bis auf ein paar Hinweise vom Veranstalter, was Durststrecken und gefährliche Streckenabschnitte angeht, habe ich keine besonderen Details recherchiert, wie sonst üblich bei Brevets. Es ist für mich eben auch eine ganz neue Herausforderung – ich kann gerade mal abschätzen, wie weit wir an einem Tag kommen und an welcher Kontrolle wir potentiell übernachten werden. Alles andere muss jetzt auf uns zu kommen.

Alle 50-100 Kilometer gibt es Kontrollstationen. Es handelt sich dabei fast immer um Schulgebäude, die während der Sommerferien leer stehen. Hier kriegen alle Teilnehmenden Essen und Getränke, es gibt Duschen, Schlafplätze auf Luftmatratzen und technische Unterstützung durch Fahrradmechaniker. Und natürlich müssen alle erst einmal an der Kontrolle halten und sich den Stempel für die Brevetkarte abholen. Die freiwilligen Helfer tragen unsere Ankunftszeit in das kostbare Heftchen ein, man quatscht kurz und dann gehts erstmal ab in die Cafeteria.

Man kann über britisches Essen ja viele Vorurteile haben, aber das Angebot an den Stationen ist für uns fast immer ideal. Eine vegetarische Option gibt es immer, meist ein indisches Curry oder Dal. An Kohlehydraten wird hier auch nicht gespart – wir häufen Kartoffeln, Nudeln und Reis in allen Variationen auf unsere Teller. Morgens dann gerne ein Full English Breakfast mit Veggie Würstchen, Hash Browns und Baked Beans. Und zum Nachtisch ein Rhabarber- oder Apfel-Crumble mit Vanillesoße (Custard). Zum Glück haben wir beide robuste Mägen und sind auch nach langen Strecken noch in der Lage viel zu essen, das kann nämlich nicht jeder. Die stetige Energiezuführung ist auf Brevets entscheidend, das darf man nicht vernachlässigen. So steuern wir auch abseits der Kontrollen regelmäßig kleine Shops und Tankstellen an, um uns bei Eis, Cola oder alkoholfreiem Radler zu erfrischen. 

Als der erste Abend anbricht, rollen wir mit Tobit und einem malayischen Randonneur auf den Hof der Kontrolle in Boston. Der Schweiß des Tages hat eine Salzschicht über der Sonnencreme hinterlassen – Zeit, beides abzuwaschen. Für mehr als eine Katzenwäsche ist es uns aber noch zu früh, die Dusche heben wir uns auf für den ersten richtigen Nachtschlaf.

Die erste Nacht steht uns bevor, wir entscheiden uns durchzufahren, wie fast alle um uns herum. Noch sind wir frisch und fühlen uns gut, den Schwung müssen wir mitnehmen. Um uns herum wird es stiller und dunkler, Grüppchen von Randonneuren bilden sich. Reflektierende Westen, Beleuchtung am Rad – alle sind gut vorbereitet. Auch wir möchten unsere Dynamos nicht mehr missen. Daniel hat auch noch das E-Werk angeschlossen, um per USB unsere GPS-Geräte und Handys aufladen zu können. Während der Nachtfahrt bemerke ich, dass mein Hinterrad Luft verliert – kein Plattfuß, eher schleichend. Es war wohl doch keine gute Idee, kurz vorher noch neue Mäntel aufzuziehen. Ich fahre Tubeless, also ist vermutlich ein Reifen nicht ganz abgedichtet. Alle 20km halte ich an und pumpe, während die eine oder andere leuchtende Randonneurswelle an mir vorbei schwappt. An der nächsten Stempelstelle will ich mir den Reifen genauer ansehen. 

Irgendwann treffen wir Tobit aus Dortmund wieder und fahren mit ihm zusammen durch die Nacht, die Unterhaltung ist kurzweilig und lässt uns unsere Müdigkeit fast vergessen. Vorbei an dampfenden Industriegebäuden geht es Richtung Humber Bridge. Ein Meilenstein bei LEL, den wir direkt zum Sonnenaufgang erreichen. Kurz nach der 1,5 km langen Brücke über den Humber erreichen wir die nächste Station, wo sich Daniel das erste Mal der Erschöpfung hingibt, eingewickelt in eine dünne Decke legt er sich zwischen etliche andere Randonneure auf den nackten Boden. 

Für mich ist der Anblick grandios – endlich erlebe ich hautnah, wovon Daniel mir damals nach Paris-Brest berichtet hat. Mayhem. Chaos. Neben halb leer gegessenen Schüsseln Porridge liegen die Leute mit dem Kopf auf der Tischplatte. An den Steckdosen türmen sich Powerbanks, GPS-Geräte und Smartphones. Im hintersten Winkel des Speisesaals, wo sonst Schulkinder essen, liegen verschwitzte, in Decken eingerollte Menschen.

Ich versuche indes mein Tubeless-Problem zu lösen, aber treffe eine schlechte Entscheidung, es einfach mit mehr Dichtmilch zu versuchen. Erst eine Station später sehe ich ein, dass ich einfach einen Schlauch ins Hinterrad einziehen sollte und selbst das erweist sich als schwierig, weil der Reifen so störrisch ist. Die ganze Aktion kostet uns bestimmt eine Stunde Zeit, die wir nicht hätten verschenken müssen. Ziemlich ärgerlich.

Mit Yorkshire erreichen wir jetzt eine ganz neue Landschaft. Kleine, von Steinmauern gesäumte Straßen und steile Hügel mit bis zu 20% Steigung warten hier auf uns. Für viele die größte Herausforderung bisher, vor allem für das Material. Nicht nur einmal sehen wir am Wegesrand einen Teilnehmer bei dem Versuch, seine Kette zu nieten. Gerissen! Deshalb wundert es uns nicht, dass an den schlimmsten Anstiegen der Großteil absteigt und schiebt. Auch ich verschalte mich mindestens einmal und stehe dann in viel zu großem Gang vor einer steilen Auffahrt. Da hilft dann nur absteigen oder nochmal Schwung holen, um aufs kleine Kettenblatt zu wechseln. Auf einem Plateau eröffnet sich uns dann eine ganz wundervolle Aussicht. Alles ist lila vom blühenden Heidekraut. Kurz darauf werden wir von ein paar Helfern zu einer Geheimkontrolle gelotst. Der Mann, der mir den Stempel ins Heftchen macht, erkennt mich vom Start wieder. Er freue sich, mich hier wieder zu sehen. Ohne die ganzen Freiwilligen wäre die Veranstaltung nicht halb so schön.

Für viele Randonneure ist Barnard Castle eins der Highlights unter den Checkpoints. Hier im Norden ist es auch einer der größten und strategisch gut gelegen, um hier eine Schlafpause einzulegen. Der Speisesaal des alten Internats ist holzvertäfelt und erinnert mit seinen Ahnengalerien und Pokalsammlungen an Hogwarts. Vom Essen bis zu den Leuten ist das ganze eine sehr britische Erfahrung. Wir verschwenden viel Zeit, entscheiden uns dann doch zu duschen und zumindest eine kurze Schlafpause einzulegen. Wir haben Glück im Unglück: im eigentlichen Schlafsaal ist kein Platz mehr zu bekommen, es wird aber grad ein weiterer Saal fertig gemacht. Unsere Gruppe marschiert in Socken über das Schulgelände, vorbei am Haus des Hausmeisters hin zu einer Sporthalle. Wie durch die Luftschleuse geht es in den Raum, in dem doch schon ein paar Leute liegen, kurz Weckzeit notiert, Ohropax ins Ohr und ratz in den kurzen aber tiefen Schlaf.

Das Aufstehen fällt sehr schwer, die Kälte kriecht in die Glieder, aber der kurze Schlaf von knapp 3h hat das Gehirn wenigstens wieder etwas aufgeräumt. Wir verlassen den kleinen Ort Richtung Pennines und erleben einen malerischen Sonnenaufgang in den Bergen, für den wir aber nur wenig Sinn haben. Wirklich wach sind wir nicht, Daniel braucht auch noch mal ein paar Minuten Schlaf am Wegesrand.

Die Pennines haben es in sich – zwei steile Anstiege auf ca. 600m bilden den höchsten Punkt der ganzen Tour. Ich bin heilfroh, dass es trocken ist. Mit fast 90 km/h rasen wir ungebremst die Abfahrt des ersten Gipfels runter. Links und rechts nur Weideland, die Straße ist schnurgerade. Hoffentlich ist da kein Schaf auf der Fahrbahn. Beim ersten „Cattle grid“, dem Bodengitter, das Vieh vom Ausbruch aus dem Weidebereich hindern soll, müssen wir dann ordentlich runter bremsen. Zwischen den beiden Anstiegen gibt es einen kleinen Ort, der sein Gemeindehaus zur kleinen Versorgungsstation umgebaut hat. Hier können wir uns kurz von der rasanten Abfahrt erholen, bevor es auf den nächsten Anstieg geht. Diesmal windet sich die Straße den Hügel hinauf, die Morgensonne bringt uns ins Schwitzen, wir haben noch unsere Nacht-Klamotten an – schon wieder viel zu warm. Sogar hier im Norden.

Mit den Pennines lassen wir nun auch tatsächlich England hinter uns. Nach der Kontrolle in Brampton dauert es nicht lange, bis wir an der Grenze stehen. „Scotland welcomes you“ – nach 49h und 600km im Sattel erreichen wir diesen Meilenstein. Wir waren schon häufig in Schottland, aber bisher immer nur zum Wandern in den Highlands und noch nie zum Fahrrad fahren. Das wird ein Spaß! Mit der Kontrolle in Moffat folgt ein weiteres Highlight: Das Essen ist hier unheimlich gut. Wir nehmen von allem und reichlich: Curry, Nudeln, Backkartoffeln, sogar eine Schokotorte gibt es. Und Salat! Und jede Menge Haferriegel zum Mitnehmen! Dass es hier noch so viel Essen gibt, obwohl wir schon eher zum hinteren Fahrerfeld gehören, zeugt davon, dass wohl einige Fahrer vor oder kurz nach den Pennines aufgegeben haben. Für uns bisher noch kein Thema – es läuft noch, auch wenn wir natürlich erschöpft sind. Unser eigentliches Problem wird uns allerdings schon jetzt klar – wir sind zu langsam. Wir merken, dass die Kontrollen immer leerer sind, wenn wir sie erreichen. Aber jetzt noch dabei zu sein, ist schon für sich gut und das feiern wir. Zum Anstoßen gibt es dann das schottische Nationalgetränk. Nein, nicht Whisky, sondern Irn Bru, einen giftig-orangen, klebrigen Energy Drink. Köstlich!

Nun ist der Halbzeitpunkt Edinburgh nicht mehr weit. Wir klettern wieder raus aus Moffat, vorbei an der Devil’s Beef Tub, wie das Tal hier heißt. So wie es hier aussieht, kennen wir Schottland. Abgegraste Hänge und Baumlose Gipfel. Am Wegesrand pflücke ich eine Distel – das Nationalsymbol Schottlands – und stecke sie an Daniels Snackbag. Im Sonnenuntergang gilt es noch ein paar Hügel zu bezwingen. Ab und zu treffen wir noch andere Teilnehmende, ein Walise hält mit uns einen längeren Plausch auf der Fahrt, bis wir uns wieder verlieren. Im Dunkeln sind es dann öfter Gruppen, die uns begegnen. Gemeinsam fährt es sich in der Nacht doch besser. Gegen Mitternacht erreichen wir dann endlich Dunfermline – die Kontrollstation kurz vor Edinburgh und der Wendepunkt.

So lange habe ich mich auf den Anblick der roten Eisenbahnbrücke, der Forth Bridge, gefreut. Parallel dazu verläuft unsere Überquerung der Meeresmündung. Nachdem wir mit großem Enthusiasmus die lange Brücke überquert haben, zieht sich der Weg bis zur Kontrolle wie Kaugummi. Es ist unheimlich still in dem urbanen Gebiet. Endlich erreichen wir die Schule, die uns heute Nacht Unterschlupf gewährt. Der Schlafsaal ist voll, wir müssen improvisieren. Eine Luftmatratze liegt im Flur, wir schnappen uns noch ein paar Decken und legen uns einfach in den Flur zwischen Schlafsaal und Kantine. Es ist nicht voll hier, wir stören niemanden. Ohropax rein, Buff vor die Augen und den Wecker auf 3 Uhr morgens. Knappe 1,5h Schlaf finden wir so. Aufstehen war niemals schlimmer. Vollkommen ausgekühlt waschen wir uns und setzen uns für Kaffee und Frühstück in die Kantine. Das Essen ist zwar super, es gibt frisches Omelette, Bohnen und Porridge, aber es fällt uns schwer, etwas runterzukriegen. Wir wissen, wenn wir uns jetzt nicht schnell wieder aufs Rad setzen, können wir es nicht mehr schaffen. Um 4 Uhr morgens starten wir in die Stadt.

Southbound

Noch ein Grund, so früh wie möglich loszufahren, war für mich, dass es jetzt richtig nach Edinburgh rein geht. Ich möchte unter allen Umständen die Rush Hour vermeiden. Aber unsere Körper spielen nicht mehr so mit wie geplant. Wir haben jetzt 750 km auf der Uhr und die dritte Nacht mit wenig bis keinem Schlaf hinter uns. Kein Wunder also, dass Daniel kurz nach unserer Überfahrt über die Brücke bei Dunfermline eine Pause braucht. Die Sonne geht gerade am Horizont auf, da legt er sich auf die nächstbeste Bank und ratzt sofort weg. Ich lasse ihn ein paar Minuten schlafen, bevor es weitergehen muss. Es ist zu kalt, um hier mitten an der Straße zu liegen, wir sollten lieber in Bewegung bleiben und hoffen, dass die Müdigkeit mit Tagesanbruch verschwindet.

Die Strecke durch Edinburgh ist überraschend angenehm. Es geht auf Fahrradwegen abseits der Straßen bis in die Innenstadt, die wir noch von unseren früheren Urlauben kennen. Am Parlament und am Arthur’s Seat, einem Gipfel inmitten der Stadt, vorbei und dann ist man auch schon wieder raus aus der Stadt. Die Rush Hour holt uns auf einem kurzen suburbanen Stück Straße dann doch ein, es wird voll und hektisch, bis wir auf eine kleinere Landstraße abbiegen. Wir müssen uns schon sehr zusammenreißen, voll konzentriert zu sein. Der folgende Teil durch den Süden Schottlands ist zum Glück ziemlich autofrei, dafür bietet er noch einmal ein paar Anstiege und schönste Landschaften. Die Kontrollen hier sind wieder zusehends leerer. Man merkt, dass die Freiwilligen auch schon ein paar kurze Nächte hinter sich haben und so langsam Feierabend machen wollen. Das macht mich leider nur noch nervöser, was unsere Zielzeit angeht. Wir versuchen, uns zu beeilen, aber unsere Batterien sind langsam aufgebraucht. Mit ein paar Gesangseinlagen wollen wir uns auf einer langen Auffahrt bei Laune halten – einer der schönsten Momente der ganzen Tour für mich. Wir fahren nebeneinander und trällern vor uns hin, als wären wir einfach nur auf einer Fahrradtour an die Ostsee. Das hat uns schon immer motiviert. Was wir damit erreichen: Die zwei Fahrer kurz vor uns werden plötzlich schneller. Komisch, sind wohl keine Fans von Sportfreunde Stiller oder Mutabor. 

Kurz darauf passiert dann doch das, was wir vermeiden wollten. Daniels Müdigkeit holt ihn ein und bei einer Abfahrt steuert er nach einem Sekundenschlaf in einen Graben und stürzt. Zum Glück ist der Sturz durch Gras weich abgefedert worden. Daniel ist unverletzt, aber wir sind um so alarmierter. Jetzt müssen wir wirklich aufpassen und gönnen uns die nächsten Kilometer immer mal wieder kurze Powernaps. Leider scheint sein Schaltwerk bei der Aktion einen kleinen Schlag abbekommen zu haben, jetzt gehen nicht mehr alle Gänge und er muss am Berg aus dem Sattel gehen. Das macht es leider nicht gerade einfacher.

Wir verlassen Schottland wieder und müssen abends an der Kontrolle in Brampton eine Entscheidung treffen. Hier bleiben und schlafen würde bedeuten, dass wir die Zielzeit höchstwahrscheinlich nicht einhalten können. Aber weiterfahren heißt, dass wir die Rückfahrt über die Pennines in der Nacht angehen müssen. Da es tagsüber im Moment selbst hier an die 30 Grad hat und ich immer noch Hoffnung habe, dass wir es schaffen können, im Limit zu bleiben, entscheiden wir uns für die Nachtfahrt. Bis nach Barnard Castle sind es noch 80 km, ich rechne damit, dass wir gegen 1 Uhr ankommen werden. 

So machen wir uns auf in die Nacht – unsere vierte. Der Vollmond steht bald über uns und wir sind nicht alleine auf der Strecke. Weitere Grüppchen und Einzelkämpfer leuchten in der Dunkelheit. Wieder gilt es die zwei höchsten Punkte der Strecke zu überqueren, diesmal aber im Stockfinstern. Ich bin schon bei Tag kein Freund von rasanten Abfahrten, aber jetzt ist höchste Konzentration und ein guter Scheinwerfer gefragt. Zum Glück haben wir beide schon lange Dynamos am Rad und auch sehr gute Lampen. Ich leuchte die komplette Fahrbahn aus und sause angespannt die Serpentinen runter, die ich erst vor weniger als 2 Tagen hoch gefahren bin. Im kleinen Ort holt uns unsere Müdigkeit wieder ein und wir debattieren, ob wir nicht lieber hier ausruhen sollten. Ich entdecke ein öffentliches WC und überlege, ob wir uns da drin auf den Boden setzen können, draußen ist es zu kalt. Als Daniel die Tür öffnen will, geht plötzlich ein Alarm los. Mitten in der Nacht stehen wir völlig verdattert auf dem Dorfplatz und wollen nur noch weg. Das war wohl nichts. Also fahren wir doch weiter. Der nächste Anstieg ist der wohl schwerste – am Horizont sieht man im Mondschein eine Kolonne von roten Rücklichtern. Eine Gruppe schiebt ihre Räder den Berg hoch. Auch wir kommen nur im Schneckentempo hoch und brauchen die volle Fahrbahnbreite, um im Zickzack bei der Steigung noch fahren zu können. Oben angekommen wirkt alles furchtbar unwirklich – so unheimlich still und menschenleer liegt die Weidelandschaft da im Mondschein.

Nach dem anstrengenden Aufstieg und der darauf folgenden Abfahrt ist mein Speicher nun vollends leer gefahren. Ich war schon tagsüber müde, aber der Adrenalinstoß der Abfahrt hat mir jetzt den Rest gegeben. Es sind nur noch 30km bis Barnard Castle sage ich mir, das schaffe ich jetzt auch noch. Ein Riegel hilft vielleicht. Die Strecke wird plötzlich flach. Dunkelheit umgibt uns, die Bäume am Wegesrand versperren den Blick auf den Vollmond. Einen Moment trete ich noch das Pedal runter, im nächsten fühlt es sich an, als ob ich ins Leere trete. Ich zucke zusammen, ich muss wohl weggenickt sein. Der gefürchtete Sekundenschlaf. Neben mir scheint Daniel das gleiche Problem zu haben. Wir versuchen uns mit Gesprächen gegenseitig über Wasser zu halten, aber brechen nach zwei, drei Sätzen ab. Zu schwer fällt es uns. Immer langsamer eiern wir nun über die zum Glück leeren Straßen. Mein Gehirn kann die Eindrücke von Licht und Schatten langsam nicht mehr verarbeiten. Vor mir verwandelt sich der längliche Lichtkegel meines Scheinwerfers in ein Baguette, dem ich hinterher fahre. Bäume werden zu Häusern, Häuser zu Brücken. Ich kann nicht mehr richtig unterscheiden, was da ist und was nicht. Plötzlich hält Daniel direkt vor mir an. Ich muss eine Vollbremsung hinlegen, um nicht in ihn zu fahren. „Warum stoppst du denn plötzlich?“, platzt es aus mir raus. „Siehst du die Frau auf der Straße denn nicht?“, meint Daniel vollkommen ernst. DIe Straße vor ihm ist leer.

Eine halbe Ewigkeit später erreichen wir endlich Barnard Castle. Die schlechte Nachricht ist, die Kontrolle schließt um 6 Uhr morgens, bis dahin müssen alle aus dem Schlafsaal raus. Wir hatten uns so auf einen erholsamen Schlaf gefreut, jetzt bleiben uns nach unserer Schneckentempo-Aktion nur noch knappe 2 Stunden, bis wir wieder raus müssen. Schnell duschen, alle Wunden Körperstellen mit Salbe behandeln und dann ab in den Schlafsaal. Mittlerweile haben wir 1000km in den Knochen.

Um 6 Uhr geht das Licht im Schlafsaal an, alle müssen raus. Ein schnelles Frühstück, dann soll es weiter gehen. Bei unserer Ankunft haben wir noch ein paar alte Bekannte wiedergetroffen – der deutsche Fahrer eines weißen Velomobils (René, wenn ich mich nicht irre) und Tobit. Unser Velomobilist ist im ziemlich gleichen Tempo wie wir unterwegs, deshalb sehen wir uns an fast jeder Kontrolle wieder und halten ein Pläuschen. Nur Tobit ist uns mittlerweile ein paar Stunden voraus. Wenn wir eintrudeln, ist er gerade im Aufbruch. Anfangs sind wir noch zusammen gefahren, unser Fahrtempo ist also eigentlich ähnlich. Hier sieht man also schön, dass wir unsere Zeit nicht auf dem Rad vertrödeln, sondern in den Pausen.

Tatsächlich gibt es noch eine harte Deadline, die wir erreichen müssen. Es ist Donnerstag und wir erinnern uns an die Mail, die kurz vor dem Start rumgeschickt wurde. Die letzte Überquerung der Humber-Bridge ist am Donnerstag um 21 Uhr, danach wird sie erst wieder am Freitagmorgen für Radfahrer geöffnet. 180km trennen uns noch von der Brücke, für die wir jetzt 15 Stunden haben. An einem normalen Brevet-Tag kein Problem. Aber heute müssen wir uns schon mental auf eine Aufholjagd einstellen.

In Schottland war es noch angenehm, was die Temperaturen angeht, in Nordengland spürt man schon morgens, dass es ein heißer Tag werden wird. Die Hitzewelle rollt noch durch Großbritannien. Im Auf und Ab der Hügel Yorkshires gönnen wir uns deshalb regelmäßig einen Powernap, füllen unsere Flaschen so oft es geht in Pubs und an Tankstellen auf und gönnen uns Eis- und Irn Bru-Pausen.

Der erste Schock kommt dann beim Betreten der Kontrolle in Malton. Hier ist schon alles zusammen geräumt. Geschlossen. Nur ein paar letzte Freiwillige sind noch da, um unsere Karten zu stempeln. Wasser können wir uns noch holen, aber ansonsten gibt es nichts mehr. Also schnell wieder auf die Straße. Sind wir wirklich so langsam? Kurz darauf bekommen wir eine Nachricht, dass die Zielschlusszeit angehoben wurde. Von 125h auf 128:20h – weil auch die Strecke wegen Sperrungen dieses Mal deutlich länger ausgefallen ist, als bei anderen Editionen von LEL. Immerhin eine gute Nachricht. Vielleicht können wir das noch schaffen.

Wir rollen also mit allem, was wir geben können in Richtung Humber Bridge. Am Ende können wir unser Glück kaum fassen – als wir um 20 Uhr an der Kontrolle eintrudeln, helfen uns die Freiwilligen derart aufopferungsvoll, dass man sich an einen Boxenstopp erinnert fühlt. Einer bringt Kaffee, einer einen Teller voller Lasagne, die ich so schnell schlinge, dass ich mir den Mund verbrenne. Ich hatte hier einen Beutel mit Wechselklamotten hinterlegt. Der ursprüngliche Plan war eigentlich eine Dusche und Schlaf, jetzt reicht es nur für eine Katzenwäsche und ein frisches Trikot. Stolz posieren wir nach dieser Rekordzeit-Kontrolle für ein Foto. Unter Applaus werden wir auf die Humber Bridge entlassen. Wir sollen die letzten sein, die die Brücke an diesem Tag überqueren.

Auf der anderen Seite der Brücke treffen wir nochmal eine Gruppe Radfahrerinnen und Radfahrer, die es auch gerade noch rüber geschafft haben. Wir holen noch kurz Snacks und Kaffee für die bevorstehende Nachtfahrt. Die Sonne geht unter und während die anderen an einem Pub sitzen bleiben, fahren wir schon mal los. Die letzte Nacht bricht an, es ist bereits unsere fünfte seit Start. Wir wollen so gut es geht durchziehen, nur noch die letzten 300 km trennen uns vom Ziel. Das ist ja gerade mal ein mittleres Brevet – schaffbar also. So kann man sich das natürlich schön reden. Aber Fakt ist, wir sind sobald die Sonne weg ist, hundemüde und ausgelaugt. Der Schlafmangel macht uns zu schaffen. 

In der Ferne der lautlosen Landstraße ragt vor uns eine Fabrikanlage mit dampfenden Schloten auf. In unserer Vorstellung nehmen die Wolken, die sie auspustet, plastische Formen an, werden zu Atompilzen und zu riesigen Gesichtern. Wir sehen uns an und merken beide, dass es drauf und dran ist, genau so zu werden wie gestern. Noch eine Nacht voller Sekundenschlaf und Halluzinationen wollen wir beide nicht, also halten wir Ausschau nach einer Schlafgelegenheit am Wegesrand – eine Bushaltestelle oder etwas ähnliches wäre ideal. Auf dem Grünstreifen neben einer Kreuzung finden wir die erstbeste Location. Unter einem alten Pferdewagen, der hier als Deko steht, legen wir uns hin und wickeln uns in unsere Rettungsdecken ein, die wir für diesen Fall dabei hatten. Die goldene Alufolie knistert und flattert im Wind, leider ist der Platz ziemlich zugig, trotzdem ratze ich sofort ein und halte Daniel noch etwas mit meinem Schnarchen wach, wovon er mir später ein Beweisvideo zeigt.

Eine, vielleicht zwei Stunden später – wir hatten vergessen einen Wecker zu stellen – wachen wir auf. Bloß schnell in Bewegung kommen. Die Nacht hat sich mittlerweile in ein kaltes Nebelmeer verwandelt. Langes Trikot und Beinlinge an und etwas frischer im Kopf als vorher aufs Rad schwingen. Ein paar Kilometer weiter gabeln wir eine Radfahrerin auf, die fröstelnd und übermüdet in einer Bushaltestelle sitzt. Sie schließt sich uns an und ist dermaßen gesprächig, dass ich kaum zu Wort komme. Jeder hat seine eigene Strategie gegen die Müdigkeit. Ich bin dann nicht mehr zum Reden aufgelegt, aber zuhören hilft mir, wach zu bleiben. Das passt also. An der nächsten Kontrolle trennen wir uns wieder, wir laden nur kurz unsere Geräte und essen etwas. Dann geht es schon weiter. Bei der Hitze, die tagsüber zu erwarten ist, ist es meiner Meinung nach schlauer, im Dunkeln Kilometer zu machen. 

Es ist 3 Uhr morgens und wir fahren durch dichten Nebel, man sieht kaum weiter als 10 Meter. Nur die roten Rücklichter der anderen Teilnehmenden sieht man ab und zu aufblitzen. Diese Strecke müssen wir schon auf dem Hinweg in die andere Richtung gefahren sein, aber keine Ahnung mehr, wie es da aussah. Langsam lichtet sich der Nebel auf den Feldern um uns herum, die Dämmerung bricht an. In dem Wissen, dass die nächste Station nicht mehr weit ist, kämpfen wir gegen die wiederkehrenden Zeichen der Müdigkeit an. Daniel braucht hier und da einen Powernap, ich kann zeitweise nur noch mit einem geöffneten Auge fahren, weil ich sonst nicht mehr meinen Blick fokussieren kann. Das Gehirn scheint überfordert zu sein mit der Reizüberflutung der letzten Tage und der ausbleibenden Erholung. Ich hoffe in dem Moment nur inständig, dass das wieder weggeht.

Der letzte Tag ist angebrochen und er verspricht flacher als bisher, aber auch heißer zu werden. An den verbleibenden Kontrollen beeilen wir uns jetzt immer, nur das nötigste wird erledigt und unterwegs benutzen wir abwechselnd die Powerbank für GPS-Geräte und Handys. Nach der Nacht verbleiben noch 200km bis London. Die ersten 100km wollen wir Tempo machen, neben uns sonnenverbrannte Felder, unter uns schmilzt der Asphalt. In Brandenburg wäre das kein Problem, aber hier hat man leider vergessen, Bäume neben die Straßen zu pflanzen. Kein schattiges Plätzchen in England. Also ist wieder ein Stop and Go mit schnellen Phasen und Powernaps oder Eis und Isodrinks im raren Schatten. 

Eine Weile lang fahren wir mit einem deutschen Randonneur zusammen, der uns Mut macht, es noch im Zeitlimit schaffen zu können. Hermann ist schon ausgeschieden, fährt aber wieder zum Ziel zurück. Wir unterhalten uns gut mit ihm und können so etwas die Strapazen vergessen. Gemeinsam fahren wir in Richtung Cambridge, auf einem perfekten Radweg entlang einer Busspur, die den Bus in einer Art Schienen auf Linie hält. 

Als wir Cambridge dann durchqueren sind wir plötzlich völlig überfordert. Bisher waren wir fast ausschließlich auf Landstraßen unterwegs, hier müssen wir uns durch Fußgängerzonen manövrieren, überall sind Autos und Menschen, Kreuzungen mit Ampeln halten uns auf und unsere Kenntnis des Linksverkehrs wird noch stärker beansprucht. Eine wunderschöne Stadt, keine Frage, aber uns gibt sie den Rest. Dazu noch die Hitze und noch schlimmer, die sengende Sonne. Ich creme mich bekanntermaßen ja schon bei dem kleinsten Sonnenstrahl mit Faktor 50 ein, aber das reicht heute nicht mehr. Meine Beine und Kniekehlen sind schon völlig verbrannt, der Schweiß löst auch die Sonnencreme im Gesicht auf. 

Für Daniel kommt es noch schlimmer. Nachdem wir die Stadt hinter uns gelassen haben, wird der Verkehr dichter, die Straßen aber wieder schmaler. Keine gute Mischung. Die Landschaft ändert sich und wird wieder hügelig. Zwar nicht hoch, aber dafür ein stetes auf und ab auf steilen Rampen. Daniels Schaltung ist seit seinem Sturz in Schottland kaputt, ich merke, dass er deutlich länger für die Hügel braucht, die er auch noch im Wiegetritt hochfahren muss. Zu guter Letzt geht ihm auch noch ein Cleat kaputt, sodass er ab und zu aus dem Pedal rutscht. Als wir einen Supermarkt passieren, hält Daniel plötzlich an und setzt sich davor. Mit leeren Augen und brechender Stimme fragt er mich, warum wir eigentlich hier sind, was wir hier machen? Ich versuche, ihn zu beruhigen, es seien jetzt weniger als 100km, dann haben wir es geschafft. Aber etwas sagt mir, dass Daniel die Fragen wirklich ernst meint. Ich hole Eis, Isodrinks und Cola und tränke sein Halstuch in kaltem Wasser. Meine Vermutung ist, dass sich hier ein Hitzschlag anbahnt. Im Schatten harren wir noch etwas aus, aber irgendwann müssen wir weiter. Dass ich Daniel wieder dazu bringe aufs Rad zu steigen, obwohl es ihm nicht gut geht, nagt sehr an mir. Und auch ich stelle mir langsam die Frage, warum wir das hier machen. Ist es mein Ego, das hier noch in der Zielzeit ankommen will, falscher Ehrgeiz, der dazu führt, dass wir uns gefährden? Wo ist die Grenze zwischen „gesundem“ Leiden und gesundheitsschädlicher Unvernunft? Denn die Leidensfähigkeit ist meiner Meinung nach schon das, was uns als Randonneure auszeichnet und von anderen Rennradfahrern unterscheidet.

Was ich am meisten hasse, sind die Momente, wenn man nicht vor und nicht zurück kann. Und das ist so einer. Also einfach weiter so und hoffen, dass es bald vorbei ist. Die letzten Stunden machen wir kein einziges Foto mehr, das heißt schon etwas. Immer mehr schwindet in mir die Hoffnung, es noch bis 19:20 Uhr ins Ziel zu schaffen, wir haben zwar im flachen gut vorgelegt, aber wegen der Hügel und der Hitze kommen wir auf den letzten 100km nur schleppend voran. Irgendwann schaue ich auf die Uhr und sehe die Zielzeit verstreichen. Uns überholen jetzt jede Menge Fahrer und Fahrerinnen auf ihrer Zielgeraden, jubelnd und triumphierend fliegen sie nochmal auf den letzten Kilometern. Unsere Stimmung ist in dem Moment leider etwas gedämpft.

Dann endlich biegen wir auf die Zielgerade ein: Ein letzter Stempel und es ist geschafft. Um 20:25 Uhr, nur eine Stunde nach der Zielzeit, erreichen wir Debden. Mit Tränen in den Augen nehme ich meine Medaille entgegen, es sind keine Glückstränen. Ich bin dermaßen aufgewühlt. Wir sind zwar Finisher, aber doch wird diese ganze Fahrt für uns als DNF gelten. Did not Finish. Ernüchternd, wenn man bedenkt, was wir die letzten 5 Tage geleistet haben, dass wir tatsächlich 1500km in 129 Stunden durch England und Schottland gefahren sind. Aber so sind die Regeln. Keine Liste wird unsere Namen aufführen. Und wenn man nicht auf einer virtuellen Liste im Internet steht, ist man dann überhaupt ein Randonneur?

Die nächsten Tage verbringen wir noch lange mit diesen Gedanken. Meine heftige emotionale Reaktion auf eine eigentlich großartige Leistung meinerseits finde ich mittlerweile zwar nachvollziehbar nach den Strapazen, aber unnötig. Ich hätte mich auch ruhig freuen können. Es gibt genügend Gründe dafür, das als Erfolg zu verbuchen. Wir sind die ganzen 1500km als Team gemeinsam gefahren, haben es geschafft, zusammen zu bleiben und uns so gut es geht, gegenseitig zu unterstützen. Das längste Brevet meines Lebens liegt hinter mir und bei einer Abbrecherquote von fast 50% durchzuziehen, ist schon eine Leistung für sich. Ich habe meine Angst vor kurvigen und steilen Abfahrten mit der Zeit in den Griff bekommen und daran sogar nach ein paar Tagen Spaß gefunden. Und die Menschen, die wir unterwegs getroffen haben, werden wir auch so schnell nicht vergessen.

Und auch, wenn das hier jetzt offiziell ein DNF ist, 2023 ist schon Paris-Brest-Paris, da kann ich dann unter Beweis stellen, dass ich auch mal etwas im Zeitlimit zu Ende fahren kann…

In diesem Sinne,

Macht was draus!

T + D

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